Webmuster


Die Luft war schwer von Sommerduft, selbst die Mücken schienen träge, wie sie sich im Zeitlupentempo immer in den selben Kreisen bewegten und einander umtanzten.
Tyra hielt die Hand schützend vor die Augen, als ein Sonnenstrahl durch das dichte Blätterdach fiel und sie blendete. Schon seit Tagen streifte sie ziellos durch die Gegend, auf der Suche nach etwas, von dem sie nicht wußte, daß es existierte.
Aus einem drängenden inneren Antrieb heraus war sie viel früher, als sie es eigentlich vorgehabt hatte, von Arlos augebrochen. Die Menschen dort waren freundlich zu ihr gewesen, der Wirt der Herberge hatte ihr ein hübsches, sauberes Zimmer zur Verfügung gestellt. Als Gegenleistung hatte Tyra an den warmen Sommerabenden für die Menschen in der Taverne gesungen, und fast immer waren alle Tische besetzt, junge und alte Leute waren herbeigeströmt, um der klaren Stimme der Sängerin zu lauschen.
Dann aber war Tyra weitergezogen, ohne sich vorher zu erkundigen, in welcher Richtung das nächste Dorf oder eine größere Stadt lag. So befand sie sich nun in diesem Wald, der von grüner Schönheit erfüllt war. In den Zweigen wippten Vögel und zwitscherten ihre Lieder, sangen um die Wette mit Tyra, die beim Marschieren eine fröhliche Melodie angestimmt hatte. Ein rot-braunes Eichhörnchen kreuzte ihren Weg und verschwand im lichtbespickten Dickicht. Dort, wo die Sonne die Wand aus Bäumen überwinden konnte, warf sie flimmernde Sternenflecken auf den Boden.
Wie ein Traumeindruck wirkten die Laute, Farben und Gerüche auf Tyra, die sommerlichen Atmosphäre hatte etwas Magisches.
Tyra brach ihr Lied ab, um ehrfurchtsvoll den Stimmen des Waldes zu lauschen. Alles vereinte sich zu einer einzigen harmonischen Symphonie, Vogelgezwitscher, das gelegentliche Knacken, von einem Tier im Gehölz verursacht, und als stets präsenter Hintergrund das Rauschen der Bäume, die miteinander flüsterten, selbst wenn kein Wind ihre Blätter bewegten.
In Tyras Phantasie wurden Bäume und Sträucher, das Gras auf dem taufeuchten Boden und die vereinzelten farbenprächtigen Blumen lebendig, aber sie bildeten keine einzelnen Wesen sondern waren ein Teil des Waldes, genau wie die kleinen und großen Tiere. Für einen Moment fühlte sich auch Tyra als Element des Waldes, des riesigen, atmenden Lebewesens, dessen Herzschlag ein dumpfes, für Menschen kaum wahrnehmbares Vibrieren der Erde war.

Nach ein paar weiteren Stunden des Wanderns war Tyras romantische Stimmung verflogen und hatte einer nüchternen Ruhe, fast schon Müdigkeit, Platz gemacht. Die Nacht konnte Tyra wohl hier im Wald verbringen, aber sie hatte vor, so schnell wie möglich wieder aufs freie Land zu kommen, um für einige Tage in einem Dorf zu bleiben, dort mit ihrem Gesang ein paar Silberstücke zu verdienen und in einem weichen Herbergsbett zu schlafen.

Das Häuschen war einfach gebaut, aus Holzstämmen, mit Stroh bedeckt. Nun, dachte sich Tyra, vielleicht haben die Bewohner ein warmes Feuer und sind einem schönen Lied nicht abgeneigt.
Auf ihr Klopfen hin öffnete sich die Tür und eine dunkelhaarige Frau erschien.
"Tretet nur ein, Ihr, die Ihr von fern gekommen seid, um uns zu besuchen", sprach die junge Frau und blickte mit tiefbraunen, geheimnisvollen Augen auf Tyra.
"Wollt Ihr einer fahrenden Sängerin, die Euch ihre Lieder spielen möchte, für eine Nacht Obdach geben?" fragte Tyra.
"Aber natürlich", sagte die Frau. "Ich freue mich immer über fröhliche Musik in meiner bescheidenen Hütte."

Das Feuer knisterte gemütlich, nachdem Tyras Magen mit der heißen Suppe gefüllt war, holte sie ihre Harfe hervor. Ihre Gastgeberin wandte Tyra ihr fein geschnittenes Gesicht zu. "Spiel deine Lieder, Sängerin. Ich muß mich wieder an den Webstuhl setzen."
So erklang Tyras Stimme in der einsamen Hütte im Wald, der Webstuhl klapperte im Takt. Die Weberin schien ganz in ihre Arbeit vertieft, Tyra war sich nicht sicher, ob sie dem Lied überhaupt zuhörte. Aber als Tyra als nächstes eine traurige Ballade von einem Mädchen, das ihren Liebsten verloren hatte, anstimmte, bemerkte sie zu ihrer Überraschung, daß auch die Weberin mit einstimmte. Ihre Stimme war tief und voll, sie verband sich mit Tyras heller Stimme zu einer wunderbaren Harmonie. Wo hatte die Weberin, die ganz allein in dieser Hütte lebte, so singen gelernt?

Tyra erwachte aus einem diffusen Traum und fand sich in dem Häuschen im Wald wieder. Eine Frau saß am Webstuhl, es war aber nicht die Weberin, die am letzten Abend zusammen mit Tyra gesungen hatte. Sie war älter und reifer, auch hübsch, aber auf eine andere Art, mütterlicher, mit einer weiblicheren, volleren Figur.
"Wer seid Ihr und wo ist die Frau, die mich gestern empfangen hat?" fragte Tyra.
"Ihr meint meine Schwester? Die ist draußen, Wasser holen", sagte die Frau am Webstuhl und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Sie untersuchte das gewebte Muster und schien nicht damit zufrieden zu sein, sie holte ein Maßband hervor und maß einen lose herabhängenden Faden.
Das Webmuster war wahrhaftig wunderbar anzusehen, unzählige Fäden aus verschiedenen Farben waren miteinander verwoben. Tyra bewunderte die meisterhafte Arbeit, die die Weberin geleistet hatte.

Tyra hatte die Hütte verlassen, um die junge Frau zu suchen. Sie wollte sich von ihr verabschieden, bevor sie weiterzog. Ein kleines Bächlein rauschte nicht weit vom Häuschen. Tyra kniete sich nieder und nahm einen Schluck klares Wasser. Von der jungen Weberin war allerdings nichts zu sehen.
Also kehrte Tyra wieder um, wollte nun in der Hütte ihre Sachen zusammenpacken. Verblüfft bemerkte sie, daß schon wieder eine andere Frau vor dem Webstuhl saß. Diese hatte schneeweißes Haar, und als sie sich zu Tyra umdrehte, sah diese die sanften grauen Augen und die Falten ringsherum.
"Suchst du meine Schwester?" fragte die Alte.
"Ich wollte mich von der jungen Frau verabschieden. Ist sie denn Eure Schwester?"
"Aber natürlich", antwortete die alte Frau. "Clotho ist die jüngste von uns dreien. Sie ist fortgegangen. Lachesis pflückt Kräuter, dort drüben im Wald."
"Dieses Webmuster ist wirklich wunderschön", sagte Tyra. "Hat Clotho es gewebt?"
"Ja, allerdings. Clotho ist die Weberin. Lachesis mißt den Faden ab, der noch nicht verwebt wurde. Weißt du auch, was dieses Webmuster ist?"
"Nein. Sagt es mir."
"Das Webmuster ist dein Schicksal."
"Mein Schicksal?"
"Ich bin Atropos, die die den Lebensfaden abschneidet", sagte die Alte und griff zur Schere.


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Meriamon, Hüterin des Mondsees, 03.03.1999

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