Lyanna-Geschichte von Silberstrahl


Lyanna war nun schon seit Tagen in diesem Wald unterwegs. Tage inmitten von grünen Blättern, Sträuchern und Moos. Es war warm, und Lyanna hielt Ausschau nach einem Platz, wo sie Rast machen könnte. Da hörte sie ein Geräusch. Sie duckte sich und ein gefiedertes Etwas zischte an ihr vorbei und schlug dumpf irgendwo auf. Lyanna hob den Kopf, und als sie sich umdrehte, sah sie den Pfeil im Baum stecken, sein Schaft zitterte noch.
Ein kleiner Hase schoß aus seinem Versteck, raste Haken schlagend davon und verschwand im Gestrüpp. Lyanna blinzelte überrascht.
"Ich bin hier", sagte plötzlich eine klare, helle Stimme hinter ihr.
Lyanna schaute sich um, und dort im Sonnenglanz lehnte an einem Baum ein wunderbares Geschöpf, einer jungen Frau ähnlich, aber doch viel mehr als dieser Schein.
Die feenhafte Erscheinung trug ein strahlendweißes Gewand. Sie war groß, schlank und geschmeidig, und ihr unbeschreiblich schönes Gesicht wurde von blondem Haar umflossen. Ihren Langbogen hielt sie wie ein Spielzeug.
Lyanna konnte sich vor Verblüffung nicht rühren. Sollte heute, an diesem Tag, der ganz gewöhnlich begonnen hatte, ihr Kindheitstraum wahr werden?
"Du bist eine Elfe", brachte sie irgendwann hervor.
"Ich bin Tira’el", sagte die Erscheinung, die Stimme ein ferner Windhauch im Laub.
"Also ... eine Elfe?" hakte Lyanna etwas mißtrauisch nach. Man mußte bei so wichtigen Dingen doch sicher sein.
"Das ist nur ein Wort", entgegnete Tira’el. "Ich bin mehr als ein Menschenwort."
"Ich wollte dich auf keinen Fall beleidigen", sagte Lyanna etwas steif. Warum nur verlief die Wirklichkeit immer anders als ihre Träume? "Ich wollte nur sagen ... Nun, ein Elfenpfeil hätte sein Ziel doch sicher nicht verfehlt?"
"Und du glaubst, das hätte er? Voreilig seid ihr Menschen." Tira’el lächelte mild.
Lyanna verlor sich langsam in den himmelblauen Augen Tira’els, die tief waren wie Teiche in die Vergangenheit. Als sie wieder zu sich fand, war es ihr peinlich, und sie rettete sich in unverbindliche Höflichkeit: "Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich heiße Lyanna, und reise im Auftrag König Gregors. Ich habe auch irgendwo einen Passierschein für diese Gegend ..." Sie begann, halbherzig in ihren Taschen zu tasten.
"Ja", sagte Tira’el nur.
Langsam legte sich Lyannas Aufregung, und ihr wurde bewußter, mit wem sie sprach. "Was tust du hier?" fragte sie.
"Ich lebe", antwortete Tira’el. "Aber ich kenne euch Menschen: Diese Antwort befriedigt euch nicht. Wahrscheinlich wolltest du wissen: ‘Was ist dein Beruf?’ oder ‘Warum bist du hier?’. Ich sehe die Dinge anders, Lyanna. Ich benötige weder Beruf noch Grund, um in diesem Wald zu sein; übrigens auch keinen Passierschein."
"Ich ...", begann Lyanna.
"Schon gut." Tira’el machte eine Geste. "Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen. Du bist eben ein Mensch, und ich bin eine Elfe. Aber erklärt das wirklich alles, oder ist es nur eine oberflächliche Ausrede?" Tira’el wölbte eine Braue. "Ich bin nicht sicher, ob ich weiß, was du meinst ..."
"Du weißt es nicht. Komm, setz dich, Freundin." Die Elfe legte ihren Bogen ab und ließ sich in einer fließenden Bewegung auf den Waldboden nieder.
Verwirrt näherte sich Lyanna und setzte sich Tira’el gegenüber unter eine alte Eiche.
Tira’el musterte Lyanna kurz, dann nickte sie langsam und schloß die Augen. Verträumt neigte sie den Kopf zur Seite, wobei sie zufrieden lächelte.
"Spürst du den Wald?" fragte sie.
Lyanna zögerte kurz, dann machte sie Tira’el nach, so gut sie konnte: Sie schloß die Augen und winkelte den Kopf an.
"Nein", sagte sie nach einer Weile traurig. "Ich spüre nichts."
"Aber hörst du nicht die Vogelrufe?"
"Doch."
"Und die Blätter, die im Wind rascheln?"
"Die auch."
"Und du hörst auch das ferne Wasserrauschen, du riechst das Harz der Bäume, du fühlst das Moos unter dir?"
"Ja, aber..."
"Jetzt öffne die Augen, schaue das lebendige Grün, nimm es zusammen mit den anderen Eindrücken in dich auf!"
Lyanna tat es. Sie hörte Vögel, Blätter, Wasser, sie roch Harz, fühlte Moos und sah Bäume.
"Aber ich spüre es nicht!" rief sie verzweifelt.
"Wie kann das sein?" entgegnete Tira’el. "All die Dinge, die ich nannte, fühlst du, und sagst, den Wald könntest du nicht spüren? Dabei tust du es schon!"
"Wenn du sagst: ‘Spüre den Wald’, dann meinst du doch das Mehr dahinter, den hohen verborgenen Geist, der jenseits all dieser einfachen Sinneserfahrungen schwebt. Elfen mögen fähig sein, ihn zu erreichen, aber ich nicht. Ich bin nur ein Mensch."
"Bist du glücklich?" fragte Tira’el unvermittelt.
"Nun ja ..." Lyanna dachte nach. "Ich habe eine gute Stellung an König Gregors Hof, ich bin als Magistratin mit wichtigen Aufgaben betraut. Alle Möglichkeiten stehen mir offen, und ich bin noch jung ..."
"Aber du sitzt im Wald, empfindest all seine Geschenke und kannst nur denken: ‘Da muß noch mehr sein’. Du hast eine hohe Stellung und denkst: ‘Es gibt höhere’. Dir geht es gut, und du denkst: ‘Es könnte mir besser gehen’. Nennst du das Glück? Höre auf mich: Jenseits dessen, was du vom Wald schon hast, ist gar nichts mehr!"
"Nichts? Ich darf nicht mehr erhoffen?" fragte Lyanna ängstlich.
"Nur zweierlei darfst du hoffen: Was dich froh macht zu umarmen und alles andere hinter dir zurückzulassen."
"Es ist nicht so einfach ...", murmelte Lyanna.
"Weil du das glaubst, träumst du", meinte Tira’el.
"Ja, ich träume", sagte Lyanna nachdenklich. "Seit 20 Jahren träume ich nachts, eine Elfe möge mich finden und mitnehmen in ihr Feenreich, wo es besser ist als hier. Was gibt es hier schon? Menschen, die sich beklagen, Könige, die ständig fordern, Verbecher, die stehlen und töten. Der Wert eines Menschen wird gemessen am Gold in seinen Taschen. Jeder Tag ist derselbe; aufstehen, sich abmühen, sich beschimpfen lassen von arroganten Fürsten ... All das habe ich immer gehaßt. Aber inzwischen bin ich Teil dieses Räderwerks geworden. Ich habe hart gekämpft, mich hochgearbeitet, und jetzt bin ich Magistratin am Hofe! Doch für was? Nur Trost habe ich gesucht, und der ist so selten in diesen Tagen. In manchen Momenten quelle ich über vor Freude, und weiß doch schon, daß die Freude bald enden muß. Dann arbeite ich härter, sammle Gold, Wissen, was auch immer; aber all diese toten Dinge sind es nicht, nach denen ich mich sehne, ich brauche sie nicht. Sie bringen nur für kleine Augenblicke Ablenkung von der Mühsal. Ach, alles für nichts! Wie unvergleichlich bist du dagegen, Tira’el vom Elfenvolk! Wie mußt du mich verachten! Ich sehne mich danach, mich zu befreien von den Fesseln, die mich binden, dir gleich zu sein in deiner Leichtigkeit, aber ich kann es nicht!"
Tränen stiegen in Lyanna hoch, sie konnte nur noch schluchzend sprechen: "Das Leben will ich trinken, aus vollen Zügen schwelgen im reinsten Glück; weg, nur weg von der Alltäglichkeit. Sehe ich vor mir Hügel sich erstrecken, so will ich ihre weite Ferne fühlen; den stillen See beneide ich um seinen Frieden, das springende Reh macht mich gierig nach seiner wilden Freiheit. Oh, ich komme nie zu Ruhe, was ich auch versuche, mich treibt eine unbekannte Macht! Sie soll schweigen; ach Gott, stille doch meinen Schmerz! Ein Vogel bin ich, Tira’el, der fliegen will, fliegen muß, aber keine Flügel hat! Bitte, hilf mir. Hilf mir doch!"
Lyannas Stimme versagte, sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, und ihre Tränen strömten ungehemmt.
Tira’el wartete geduldig. Schon andere Quellen waren unter ihrem Blick versiegt.
Irgendwann sah Lyanna auf, und ihre Blicke trafen sich.
"Deswegen bin ich hier", sagte Tira’el ruhig. "Ich bin dein Flügel. Sieh her: Ich wandle auf der Erde, seit der Erste Baum Blüten trägt. Ich jage in den Wäldern, spiele auf den Wiesen, schwimme in den Seen und steige auf die schneebedeckten Kuppen der Berge, so wie es mir gefällt. Nichts hält mich, und die Jahrhunderte sind meine Spielgefährten. Ich lache über die Mächtigen, deren Reiche ebenso zerfallen wie ihre Kronen, denn sie sind nichts verglichen mit mir. Ich bin die Freiheit, der Friede und die Kraft im Stillen; ich bin der Lebensmut, das Spiegelbild der fernen Sterne im Morgentau, die Antwort auf den lockenden Ruf. Ich bin dein Ziel.
Und ich sage dir nun: Die Fesseln, die dich halten, sind nichts als eine Illusion. Erhebe dich, spring, und du wirst sehen: Es hat sie nie gegeben. Deine Sehnsucht brennt doch in dir, was folgst du ihr nicht? Es ist so einfach! Du lebst, und du bist frei; hier, mit mir und jetzt!
Komm mit mir, Lyanna! Laß uns tausend verstaubte Bücher, von zittriger Menschenhand geschrieben, Lügen strafen! Laß die blinden Gotteskinder weiter suchen und im Dunkeln tasten in ihrer kleinen Welt! Laß dein Mitleid über sie kommen: Gold und Macht sind ihre Götzen, nach dem Quell des Lebens dürstet es die meisten nicht. Du bist anders: Du weißt genau, daß dir etwas fehlt, aber was du vermißt, das weißt du nicht. Dieses schwere Los setzt dir zu, doch macht es dich auch besonders. Deswegen bin ich zu dir gekommen! Aus Hunderttausend deiner Art bekommt nur einer die Hand gereicht, die ans Licht führt. Dein Traum wird wahr: Hier ist die Hand, ergreif sie, lebe!"
Noch nie hatte Lyanna etwas so von himmlischer Macht Beseeltes gesehen wie diese Elfenhand, die sich ihr nun entgegenstreckte. Die ganze Welt existierte nur, damit sie jetzt, jetzt sofort, in Tira’els Arme fallen konnte.
Warum tat sie es nicht? Sie zitterte am ganzen Leib, ihre Seele brannte aufgrund der ergreifenden Worte Tira’els.
Langsam und enttäuscht senkte die Elfe ihre Hand. "Du zögerst noch immer? Hast noch immer Zweifel?"
"Ja", mußte Lyanna schluchzen und haßte sich selbst dafür. "Ich lebe doch schon 28 Jahre hier auf dieser Welt. Ich kann mich nicht in zwei Sekunden lösen."
"Es braucht nicht einmal zwei Sekunden", kam die Antwort. "Nur ein Gedanke, ein Sprung befreit dich völlig. Wenn du mit weniger beginnst, fällst du irgendwann zurück in die Verzweiflung. Eigentlich ist es schon jetzt zu spät ..."
"Was ist mit dem Tod?" platzte es plötzlich aus Lyanna heraus. "Du bist doch sterblich, und ich muß auch sterblich bleiben?"
"Ich bin noch nie gestorben. Du etwa? Wenn nicht, warum quälst du dich mit Sorgen was kommen wird? Was dich wirklich ängstigt, mehr als alles andere, ist das Unbekannte, weil es sich deiner Kontrolle entzieht. Für dich ist das Unbekannte ein schwarzes Monstrum, welches dich beständig verfolgt und aus häßlichem Maul deinen Namen mit zuckersüßer Stimme ruft. Du fliehst vor ihm. Ich sage dir: Dreh um! Schau ihm in die Augen, und das Monstrum verwandelt sich in einen lieben Freund. Entdecke die endlosen Wunder, die er versteckt in seinen vielen Taschen bei sich trägt; er ist mein Ebenbild! Was du aber niemals besiegen wirst, das ist dein Schicksal. Ergib dich ihm, denn ihm gegenüber hast du keine Wahl. Oder fürchtest du etwa den Sonnenuntergang? Ich sage dir: Du wirst ihn nicht verhindern können. Zuerst lebe, dann denke an den Tod. Umgekehrt macht es keinen Sinn."
"Du spottest über mich", sagte Lyanna leise. "Du kannst nicht mein Traum sein, der würde mich nicht verspotten."
Sie faßte sich ein Herz und sah Tira’el fest in die Augen.
"Warum glaubst du, daß du der Weisheit letzter Schluß bist? Daß du auf alle Fragen die richtige Antwort weißt? Schau auf dein wirklich langes Leben zurück! Hast du einmal etwas angefangen und auch beendet? Hast du Unbilden des Lebens mit deinem Willen bezwungen, so wie ich? Hast du etwas Bleibendes hinterlassen? Nein, du tanzt selbstsüchtig durch die Wälder, fern jeder Verantwortung. Ich habe Verantwortung, und ich wachse an ihr! Meine Eltern waren so stolz, als ich meine Stellung antrat, ich kann sie nicht enttäuschen. Und meine Freunde, sie haben mich immer für meine Stärke bewundert, für das, was ich erreichte. Und der Brief, ich muß an den Brief denken ..." Damit zog sie ein Kuvert aus der Tasche. "König Gregor hat mich persönlich gesandt, um Graf Markus diesen Brief zu überbringen ..."
" ... in dem er ihm zu seiner Hochzeit gratuliert, ein Abkommen vorschlägt, und so weiter, immer so fort", beendete Tira’el den Satz gelangweilt. "Bereiten dir diese Spielchen Freude? Vor deinen Augen sitzt die Wahrheit, aber du weigerst dich, sie anzunehmen, und machst statt dessen viele Worte. Was du Angefangenes Beenden nennst, ist grundloses Bemühen. Was du Verantwortung nennst, sind selbstgeschmiedete Ketten, die dich ersticken. Und was soll Stolz, wozu brauchst du Bewunderung? Deinen Eltern und Freunden sind Qualen wie die deinen fremd, denn sie haben den fernen Ruf niemals gehört. Sie sind auf ihre Weise frei. Doch du bist anders und kannst dich nicht entziehen. Dein Weg führt zu mir. Daran ist nichts Selbstsüchtiges; du hast das Recht, glücklich zu sein."
"Und was ist mit der Liebe?" fragte Lyanna. "Hast du je Liebe gefühlt?"
"Besäßest du, was ich besitze, du würdest nicht fragen. Meine Liebe umfaßt die Größe der Schöpfung selbst, eine Beschränkung hat sie nie gekannt. Sie ist tiefer, reiner und wahrer als alles, was du im Menschenland finden könntest."
Lyanna blickte durch das Laub in die Ferne, wo das tiefrote Licht der Abendsonne glühte. Ihre Gedanken waren dumpf und ihr Gemüt schwer. Ja, die Sonne ging unter, und sie hatte es nicht verhindert. Sie konnte die Elfe nur noch schemenhaft erkennen.
"Ich habe Angst", hauchte sie. "Ich kann nicht mit dir gehen, noch nicht."
"Ich weiß", flüsterte Tira’el ebenso leise. "Aber ich bin gekommen, dir meine Welt zu zeigen. Wirst du jetzt aufhören, dich in Sehnsucht zu verzehren, Freundin?"
"Ich wünschte es so sehr. Ach, warum locken mich denn beide Welten, Feenland und Menschenstadt? Und ich muß immer zwischen ihnen stehen, unfähig einen mutigen Schritt in irgendeine Richtung zu tun, gleich in welche. Darf ich hoffen, das beste aus beiden zu bekommen?"
"Ich habe Mitleid mit dir, Freundin. Aber was kann ich tun? Alles, was ich besitze, habe ich dir angeboten." Tira’els Stimme war weit entfernt.
"Komm wieder, irgendwann!" rief Lyanna in die Finsternis. "Wenn ich älter bin, stärker, weiser! Laß mich nicht allein!"
Tira’el antwortete nicht, und Lyanna war allein in der Nacht. Das tote Auge des Vollmonds starrte leer auf sie herab. Von plötzlicher Panik gepackt, sprang sie auf und stürzte zu dem Baum, in den Tira’el ihren Pfeil geschossen hatte. Als sie die sanften Federn unter ihren Fingern spürte, seufzte Lyanna und liebkoste den Pfeil wie ein stummes Versprechen.

ENDE


Silberpfeil


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Meriamon, Hüterin des Mondsees, 25.03.1999

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