Die Prüfung


"Bist du wirklich gewillt, in die Gilde der Magier aufgenommen zu werden und all ihre Gesetze und Regeln zu befolgen?" sprach Tygor, der Oberste Adept.
"Ja, mein Wille ist es, Adept der Großen Kunst zu werden", begann Lina, die junge Novizin, die rituellen Worte. "Ich will lernen, die Kraft in mir zum Wohl aller Menschen zu nutzen. Ich werde mich den Regeln der Magie unterwerfen und hoffen, daß sie mir den Weg zum Licht zeigen."
"Nun gut. Du weißt ja, daß du zuerst die Prüfung bestehen mußt, bevor du in die Reihen der Adepten aufgenommen werden kannst."
Oh ja, das wußte Lina sehr gut. Vieles hatte sie gehört über die Prüfung, man sagte, sie wäre eine schreckliche Probe von Stärke und Mut.
Doch denen, die sie bestanden hatten, war es versagt, darüber zu sprechen. Und denen, die sie nicht bestanden hatten? Nun, niemand hatte sie je wieder gesehen...

"Nun werde ich dir deine Aufgabe erklären", sagte Tygor. "Eigentlich sind es zwei Aufgaben, du kannst dir eine davon aussuchen. Wenn du nur eine lösen kannst, wirst du als Adept anerkannt und kannst dein Studium der Magie beginnen. Wenn du die Prüfung bestehst, hast du das Recht, die erste Regel der Magie zu erfahren."
Um die Regeln wurde ein großes Geheimnis gemacht, alle Novizen rätselten schon lange, was sie wohl besagen sollten. Einige behaupteten sogar, sie zu kennen, aber zu ihrem Leidwesen glaubte ihnen niemand.
"Du mußt", fuhr Tygor fort, "den goldenen Kelch finden. Er befindet sich irgendwo im Dunklen Turm. Du mußt ihn nur zurückbringen. Vielleicht ist dir diese Aufgabe zu schwer, es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, die Prüfung zu bestehen, und zwar, indem du mir sagst, was sich hinter der Nebeltür verbirgt. Aber nun geh, ich wünsche dir viel Glück."

So sah also der Dunkle Turm von innen aus. Lina war - natürlich - noch nie zuvor in seinem Inneren gewesen, das war nur den Prüflingen erlaubt.
Ihre Fackel erhellte die Düsternis nur schwach, so daß sie gerade noch etwas sehen konnte. Das Licht warf flackernde Schatten an die Wand. Der Gang war eng, sehr eng und bedrückend, nichts als kahler grauer Stein. Linas Schritte hallten über den leeren Korridor. Sie fühlte sich so verlassen wie nie zuvor.
Sie wanderte und wanderte, immer den Gang entlang. Es ging immer nur geradeaus, es gab weder Biegungen noch Abzweigungen. Lina wußte nicht, wieviel Zeit schon vergangen war, es kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit. Vielleicht auch eine ganze.
Das einzige, was sie vorwärtstrieb auf dem endlosen Weg, war ihr Wille. Sie hatte den Entschluß gefaßt, Adeptin zu werden, und nichts konnte sie aufhalten, auch kein Gang, wie lang er auch sein mochte.

Erschrocken blieb Lina stehen, als sie fast gegen eine Wand lief. Einen kurzen furchtbaren Moment lang dachte sie, sie hätte das Ende des Ganges erreicht und müßte nun den ganzen Weg wieder zurück, bis sie sah, daß es nur eine scharfe Rechtsbiegung war.
Hinter der Kurve verbreiterte sich der Gang immer mehr, so daß allmählich das Gefühl der Beklemmung wich.
Schließlich kam Lina zu einem großen Raum. Zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken versperrten feste Steinwände den Weg. Die einzige Möglichkeit war also, weiter geradeaus zu gehen.
Nur - der Raum war in der Mitte geteilt durch eine schluchtartige Spalte. Ein Abgrund aus gähnender schwarzer Leere schaute ihr entgegen. Lina wußte nicht, wie tief es war, aber sicherlich zu tief, um unbeschadet hineinzufallen.
Zuerst wußte Lina vor lauter Schrecken keinen Rat, aber als sie sich etwas gefaßt hatte, fiel ihr ein, daß dies eine Prüfung war, also mußte es eine Möglichkeit geben, sie zu bestehen.
Als ihr das klar geworden war, brauchte sie nur einen weiteren Blick, um zu bemerken, daß die Schlucht gar nicht so breit war, wie sie anfangs ausgesehen hatte. Eigentlich könnte sie diese Distanz jederzeit leicht überspringen, aber es war doch etwas anderes, über frisches grünes Gras zu hüpfen, als über einen drohenden Abgrund. So stand Lina eine Weile da und überlegte. Der Traum ihres Lebens, das Studium der Magie, lag hinter dieser Spalte. Lina kam zu dem Schluß, daß sie keine andere Wahl hatte, sie mußte einfach versuchen, hinüberzuspringen.
Sie nahm allen Mut zusammen, ging einen Schritt zurück, nahm Anlauf und - kam sicher auf der anderen Seite an.

Voller Stolz über diesen Erfolg machte sich Lina wieder auf den Weg. Was auch immer jetzt kommen mochte, das Schlimmste hatte sie bereits überstanden.
Völlig überrascht sah sie aber nach ein paar Schritten, daß keineswegs weitere Gefahren auf sie warteten. Dort, dort in der Ecke stand ein kleines Tischchen und darauf sah sie etwas funkeln. Als sie näherkam, sah sie, daß es tatsächlich so war! Es war der goldene Kelch! Sie hatte es geschafft! Ihr Traum war in Erfüllung gegangen. Als sie das schimmernde Gold mit ihren Händen berührte, verschwand er nicht etwa - nein, es war keine Illusion, sie hatte wahrhaftig den goldenen Kelch gefunden!
Nun würde es ein leichtes sein, zurück über die Spalte zu springen und den Gang entlangzulaufen, um dem Obersten Adepten zu zeigen, daß sie die Aufgabe erfüllt hatte.

Lina drehte sich um, ihr Blick streifte die Wand. Sie machte schon einen Schritt auf die Spalte zu, da bemerkte sie etwas zu spät, daß irgend etwas an der Wand nicht richtig gewesen war.
Sie wandte wieder ihren Kopf und bemerkte erstaunt, daß die Wand sich bewegte! Zumindest schien es zuerst so, aber dann sah sie, daß sich an dieser Stelle überhaupt keine Wand befand. Es war viel mehr eine wogende Masse, fast wie Wolken.
Da fiel es Lina ein. Das mußte die Nebeltür sein!
Vorsichtig näherte sie sich dem Gebilde, es sah wirklich interessant aus. Was wohl dahinter liegen mochte?
Ein Krächzen riß sie aus ihren Gedanken. Auf einem Vorsprung, über der Nebeltür saß ein schwarzer Rabe.
Aber was konnte es schon schaden, beide Aufgaben zu lösen.
Vielleicht brauchte man doch beides, um die wirkliche Prüfung zu bestehen.

Den Raben ignorierend, schritt Lina vorsichtig durch die Nebeltür.
Zuerst war es ein Gefühl, als würde sie in die Höhe gehoben und mit unvorstellbarer Geschwindigkeit über die ganze Welt fliegen. Dann verschwand das Hochgefühl aber urplötzlich und eine Welle des Schreckens erfaßte sie. Sie fiel hinab, fiel, fiel, und der Nebel verwandelte sich in unendliche Schwärze...
"Ach", krächzte der Rabe. "Wieder jemand, der die erste Regel der Magie niemals begreifen wird. 'Neugier ist der Tod des Magiers.'"


Zurücik zum Lagerfeuer
Zum Mondsee

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Meriamon, Hüterin des Mondsees, 30.03.1998

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