Ein Märchen


Vor langer langer Zeit lebte einmal ein Mädchen, sie war sehr arm und mußte jeden Tag die Zimmer einer reichen alten Frau putzen. Die alte Frau war sehr boshaft, sie quälte das Mädchen, wo sie nur konnte. Das Mädchen mußte die schmutzigsten Arbeiten verrichten, es bekam nur die Reste vom Tisch ihrer Herrin zu essen und mußte auf einem Strohsack in der Ecke schlafen.
Eines Morgens ging das Mädchen vors Haus zum Brunnen, um Wasser zu holen. Sie ließ den Eimer in die Tiefe und als er sich mit Wasser gefüllt hatte, drehte sie die Kurbel, um ihn wieder hoch zu holen. Doch der Eimer war schwer, als wäre er voll mit Steinen, das Mädchen schaffte es nicht, ihn nach oben zu bewegen. Sie zog an der Kurbel, doch es nützte nichts. Schließlich beugte sie sich über den Rand des Brunnens, um zu sehen, was mit dem Eimer passiert war. Sie sah nur Dunkelheit, die tiefste Schwärze, der Schacht schien unendlich weit in die Tiefe zu führen.
"Wo bleibst du?" schrie die alte Frau, die im Haus ungeduldig wartete. Ob es ihre Stimme war, die das Mädchen verschreckte oder ob der Wind ihr plötzlich einen Stoß gab ist ungewiß, man weiß nur, daß das Mädchen in den Brunnen fiel.
Ihr Fall schien ewig zu dauern, der Boden des Brunnens war meilenweit von ihr entfernt, doch schließlich, nach langer Zeit, tauchte sie in das kalte Wasser ein. Es war eiskalt, sie war gelähmt, sie konnte nichts mehr fühlen, nichts mehr denken. Schwarze Schwärze brach über sie herein.

Als das Mädchen aufwachte, war alles so anders, so fremd. Die Sonne brannte auf sie herab, sie lag auf einer feuchten grünen Wiese. Nirgendwo sah sie den Brunnen oder das Haus, wo sie der bösen alten Frau dienen mußte. Langsam stand sie auf und ging auf den Wald zu, der unter der gleißenden Sonne lag.
Die Blätter streiften ihre Haut, doch es war angenehm kühl und schattig hier. Sie wanderte weiter, hungrig, weil sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. So ging sie sofort auf den roten Himbeerbusch zu, als sie ihn entdeckte. Gerade streckte sie ihre Hand aus, um eine Beere zu pflücken, als sie ein winziges Männchen daraus hervorlugen sah.
"Wer bist du denn?" piepste das Männchen mit einer so dünnen und leisen Stimme, daß das Mädchen sich anstrengen mußte, es zu verstehen.
"Ich habe mich verirrt", antwortete das Mädchen.
"Aha, aha!" rief das kleine Männchen aufgeregt. "Wir haben also Besuch. Von jemandem, der nicht hierhingehört. Na, wir sollten den Gast wohl hineinbitten."
Es schnippte mit dem Finger, das Mädchen bemerkte nichts, nur daß sich die Umgebung von einem Moment auf den anderen veränderte. Das Mädchen stand nicht mehr im Wald sondern in einer Hütte mit roten, weich aussehenden Wänden. Vor ihr stand ein Mann, etwas kleiner als sie, auf dem Kopf trug er eine blaue Zipfelmütze.
"Ich bin Fitzlitz, der Gnom. Der Himbeergnom, um genau zu sein, ich bin der Sohn des Apfelgnoms, der Bruder der Erdbeergnomin. Und, wer ist denn mein hübscher Gast?"
"Ich bin ... nur ein Dienstmädchen. Ich bin in einen Brunnen gefallen."
"So, so. In einen Brunnen gefallen also. Das ist ja interessant. Weißt du, mich hat schon lange niemand mehr besucht. Außer meiner Verwandtschaft natürlich. Aber es ist bestimmt schon fünfhundert Jahre her, seit jemand zu mir kam, der in einen Brunnen gefallen ist."
"Fünfhundert Jahre? Du bist so alt?"
"Alt? Ich bin jünger als der Wald hier, viel jünger als das Land. Na gut, ich bin vielleicht älter als meine Himbeere - weißt du, ich muß sehr oft umziehen, ständig kommt ein Vogel und pickt an meinem Haus herum. Aber das ist noch lange kein Grund, mich alt zu nennen. Schau dir die Sterne an, die sind alt!"
Der Himbeergnom fuchtelte wild mit seinen Händen herum, während er auf das Mädchen einredete.
"Aber warte, ich bin ja unhöflich zu meinem Gast. Entschuldige, ich bin so vergeßlich. Ich sollte dir wirklich etwas zu Trinken anbieten. Ja, ich habe schon lange keinen Besuch mehr gehabt, weißt du. Manchmal bin ich einsam hier in meiner Himbeere. Das soll nicht heißen, daß ich nicht gerne allein in meiner Himbeere lebe, nein. Ich bin schon glücklich, aber trotzdem freue ich mich über jeden, der den weiten Weg zu meinem Haus findet. Vor allem jene, die durch den Brunnen kamen, das sind immer die interessantesten Gäste."
Der Gnom öffnete ein kleines Schränkchen und holte eine Kanne und zwei Krüge heraus. Er schüttete dem Mädchen etwas von der roten Flüssigkeit ein.
"Trink ruhig, das ist Himbeersaft. Ja, etwas anderes bekommt man selten, wenn man in einer Himbeere lebt. Aber es ist trotzdem lecker, auch wenn man es jeden Tag trinkt. Manchmal wünsche ich mir natürlich auch ein Glas frisches Wasser, das gibt es aber nur, wenn ich den Quellgnom, meinen Vetter besuche. Das tue ich nur einmal im Jahr - haben wir schon Juli? Dann ist es ja höchste Zeit, dem guten Iskarin einen Besuch abzustatten. Erinnere mich, daß ich das nächste Woche tue, in dieser habe ich keine Zeit mehr, ich muß meinen Himbeersputz abhalten. Ja, das muß ich jetzt leider tun, ich mache es nicht gerne, natürlich nicht, aber es muß sein."
"Ja", sagte das Mädchen.
"Na gut, was genau ist dir passiert, ...? Wie war dein Name noch gleich, es tut mir leid, ich bin immer so vergeßlich, ich muß mir alles aufschreiben, aber dazu habe ich nie Zeit. Ja, es ist schlimm, wenn man mitten im Himbeersputz ist."
"Ich habe keinen", antwortete das Mädchen.
"Wie bitte?" sagte der Gnom. "Keinen was? Du hast keinen Himbeersputz? Das glaube ich dir, du wohnst mit Sicherheit nicht in einer Himbeere, so groß wie du warst, bevor ich dich mit meinem Schrumpfus Magicus belegt habe. Wie kannst du mit deiner Größe überhaupt unter den Bäumen hindurchlaufen ohne anzustoßen? Sind bei dir hinter dem Brunnen eigentlich alle Leute so groß?"
"Keinen Namen", sagte das Mädchen.
"Keinen Namen", wiederholte der Gnom. "Warum hast du keinen Namen? Jeder hat einen Namen. Siehst du, mein Name ist Fitzlitz, kein schöner Name, aber immerhin ein Name und dazu noch mein Name. Jawohl, er ist mein eigener Name, Fitzlitz der Himbeergnom. Das bin ich. Ich hieß schon immer Fitzlitz, seit ich geboren wurde. Natürlich habe ich noch einen zweiten Namen, den ich mir selbst ausgesucht habe, der Name ist Bonulus. Fitzlitz Bonulus, das hört sich doch gut an, nicht wahr. Mein dritter Name natürlich, den verrate ich dir nicht. Diesen Namen hatte ich schon immer, schon bevor ich geboren wurde. Niemand hat ihn mir gegeben, er war immer da. Wenn du denkst, ich würde ihn dir jetzt sagen, dann denkst du falsch. Du brauchst dir gar keine Hoffnungen machen, ich sage ihn dir nicht!"
Er trank einen Schluck aus seinem Krug und schaute das Mädchen wieder an.
"Sag mir jetzt deinen Namen, deinen ersten."
"Ich habe keinen!" beteuerte das Mädchen.
"Ja, wie wirst du denn genannt? Wie haben deine Eltern dich gerufen?"
"Ich kenne meine Eltern nicht. Und meine Herrin hat immer nur 'Mädchen' zu mir gesagt."
"Warte. Warte einen Moment. Du sagst, du hattest keinen Namen. Das ist schlimm, das geht nicht. Wir müssen sofort etwas ändern, du kannst nicht ohne Namen weiterleben. Also, wir müssen etwas ändern. Was tun wir jetzt? Ganz einfach! Wir geben dir einen Namen. Und schon ist das Problem gelöst. Ja, ich bin gut, ich denke einmal nach und - zack - habe ich das Problem gelöst. Ha, wie schlau ich doch bin! Ja, Fitzlitz, der Schlauste der Gnome. Mirasula!"
"Was ist? Mira... was?"
"Mirasula!"
"Mirasula."
"Genau!"
"Und was ist jetzt mit 'Mirasula'?"
"Du."
"Ich?"
"Ja, du."
"Aha."
"Du bist Mirasula!"
"Ich bin Mirasula. Ach so. Mein Name... ist Mirasula?"
"Richtig!" rief der Gnom.
"Und nun?" fragte das Mädchen, das heißt, fragte nun Mirasula.
"Nun hast du einen Namen. Und alles ist in Ordnung. Du kannst glücklich sein, ich kann glücklich sein."
"Na gut, dann bin ich jetzt glücklich."
"Gut!"
Der Gnom und die frischgebackene Mirasula verbrachten einige Zeit damit, glücklich zu sein, bis schließlich der Gnom das Wort ergriff.
"Was machen wir jetzt?"
"Ich weiß nicht."
"Ich auch nicht."
Schweigen.
"Wo bin ich hier?" fragte das Mädchen.
"Im Himbeerhaus. Bei Fitzlitz."
"Ja, das weiß ich. Aber wo bin ich? Ich bin nicht bei dem Haus meiner Herrin. Ich bin in den Brunnen gefallen."
"Genau. Du bist auf der anderen Seite des Brunnens. Im Wald auf der anderen Seite des Brunnens."
"Im Wald auf der anderen Seite des Brunnens? Gibt es hier noch etwas anderes als den Wald?"
"Ja, natürlich. Vor dem Wald ist eine Wiese, hinter dem Wald ist ein Feld, rechts vom Wald sind die Berge und links vom Wald ist das Meer. In der Mitte des Waldes ist übrigens ein See, und quer durch den Wald führt ein Fluß."
"Hat das Land hier einen ... Namen?"
"Einen Namen? Es ist das Land auf der anderen Seite des Brunnens. Das heißt, eigentlich ist es das Land auf dieser Seite des Brunnens, dein Haus liegt auf der anderen Seite des Brunnens. Obwohl, man kann auch nicht sagen, das Land auf dieser Seite des Brunnens, denn es gibt keinen Brunnen auf dieser Seite. Es gibt nur einen See, wenn du in den See fällst, kommst du auf die andere Seite des Sees. Auf der anderen Seite gibt es dein Haus und den Brunnen. Also, wir sind auf dieser Seite des Sees - nein, das geht auch nicht. Es gibt ja gar keine andere Seite des Sees, auf der anderen Seite gibt es keinen See! Warte mal, ich habe eine Idee. Ich sage einfach, wir sind hier."
"Wir sind hier? Aber natürlich sind wir hier! Wir sind immer hier!"
"Was redest du da? Wir sind doch nicht immer hier. Du warst doch noch vor kurzem in deinem Haus, also anderswo."
"Ja, natürlich. Aber wenn ich jetzt durch den Brunnen - oder durch den See gehe, dann bin ich doch nicht mehr hier, aber ich kann trotzdem sagen: 'Ich bin hier.'"
"Na gut, na gut. Wie du willst. Also sind wir nicht hier!"
"Doch, wir sind hier! Egal wo wir sind, wir sind immer hier!"
"Ich kann doch woanders hingehen, dann bin ich nicht mehr hier."
"Na und?" schrie Mirasula.
Der Gnom drehte sich um und stellte die Krüge wieder zurück in sein Schränkchen.
"Du kannst in diesem Land überall hingehen, wenn du willst, kannst du auch wieder durch den See zu deinem Haus zurückkehren."
"Das will ich aber nicht. Ich will nicht zurück zu der alten Frau, die mich so schlecht behandelt."
"Na gut", sagte der Himbeergnom. "Dann bleib eben hier."
"Egal wo ich bin, ich bin immer hier!"
"Dann bleib eben immer hier! Mir ist es egal", sagte der Himbeergnom. "Hauptsache du hilfst beim Himbeersputz mit."



Zurücik zum Lagerfeuer
Zum Mondsee

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Meriamon, Hüterin des Mondsees, 30.03.1998

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