Der Drache


Vor langer langer Zeit lebte einmal ein großer Drache. Er lebte in einer tiefen, dunklen Höhle in einem Berg. Dort drin war es so schwarz, daß niemand etwas sehen konnte, nur der Drache lebte schon so lange dort, daß seine Augen sich an die pechschwarze Finsternis gewöhnt hatten, sie hatten sich zu roten Schlitzen verändert, die auch im Dunklen sehen konnten. Der Drache war schon so alt, so uralt, daß er während seines langen Lebens immer größer und dicker geworden war, nun konnte er seinen riesigen Körper nicht mehr durch die Öffnung seiner Höhle zwängen. Er konnte also nicht mehr nach draußen und wie früher über die Dörfer der Menschen fliegen und sich dort sein Futter holen, Menschenfleisch und Menschenblut, eine Delikatesse für den Drachen. Nein, er mußte nun in seiner Höhle liegen und warten, warten, bis sich etwas zu Fressen zufällig in seine Höhle verirrte. Er wartete also und schlief, wartete und hungerte, nur ab und zu leckte er einen Wassertropfen von den Höhlenwänden, damit er nicht verdurstete.
Der Drache wartete also in seiner Höhle und schlief und zählte das Gold seines Schatzes, den unermeßlichen Reichtum, den er sich in den vielen Jahren angesammelt hatte, als er regelmäßig die menschlichen Siedlungen überfallen hatte, es waren unzählige Goldstücke und Schmuck und Juwelen, ein ganzes Königreich hätte man dafür kaufen können.
Nun, es begab sich eines Tages, daß ein junger Krieger bei der Jagd in die Nähe der Höhle kam. Er wurde von einem Gewitter überrascht, es blitzte und donnerte, und der Regen prasselte auf ihn herab, außerdem drohte ein Sturmwind ihn wegzuwehen.
Der Krieger machte sich also auf, um Schutz vor dem Gewitter zu suchen. Schließlich fand er die Höhle, natürlich dachte er, sie wäre unbewohnt, er wußte nicht, daß ein Drache darin lebte. Der tapfere junge Krieger betrat die Höhle des Drachen, und ging tiefer hinein in die Dunkelheit. Vorher hatte er sich eine Fackel entzündet, um in der Finsternis sehen zu können. Nach kurzer Zeit traf er auf den Drachen, der anscheinend schlafend vor seinem Schatz lag. Er bewachte seine Reichtümer, denn sie waren alles, was er hatte. Er hatte nichts zu fressen, nur Gold und Juwelen, aber er war bereit, diese vor allem zu verteidigen, was in seine Höhle kommen mochte.
Als er den Drachen sah, nahm der Krieger seinen Speer, um ihn zu töten, denn er wußte, dies war dasselbe Tier, das vor einigen Jahrzehnten die Dörfer der Umgebung verwüstet hatte. Der Drache rührte sich nicht, seine Schuppen, die vor langer Zeit leuchtend grün waren, waren nun verblaßt, ihre Farbe war das Braun von vermodertem Holz, das Braun von verwelkten Blättern.
Doch als der junge Krieger nähertrat und seinen Speer erhob, öffnete sich das Auge des Drachen. Es hatte sich lange nicht mehr geöffnet, denn es gab ja nichts zu sehen außer der ewigen Schwärze, doch der schwache Geruch von frischem Menschenfleisch stieg dem Drachen in die Nase, sein Geruchssinn war zwar abgestumpft, aber es reichte doch, ihn auf den Eindringling aufmerksam zu machen.
Der Drache wollte sich erheben, und den Leckerbissen, der ihm vor das Maul spaziert war, mit seinen Zähnen und Krallen erlegen, ihn mit seinem Feuer zu grillen. Doch er konnte sich nicht bewegen! In den langen Jahren, in denen er nichts anderes gemacht hatte, als in seiner Höhle liegen und warten, waren seine Muskeln verkümmert. Er bemühte sich, Feuer durch seine Nüstern zu blasen, doch es gelang nicht, er war zu alt, viel zu alt, zu lange hatte er das nicht mehr getan.
So lag der Drache hilflos und konnte nur zuschauen, wie der Krieger ihn mit seinem Speer angriff.
Doch da besann er sich, daß ihm noch seine Magie geblieben war. Denn alle Drachen haben die Macht der Magie und können diese nicht verlernen. Also blickte der alte Drache den Krieger fest mit seinem roten Auge an und warf einen Zauber auf ihn, so daß sich der junge Mann auf der Stelle gelähmt wurde. So sehr er sich auch anstrengte, der Krieger konnte keinen Schritt tun und auch seinen Arm nicht mehr bewegen, er konnte nicht einmal mit dem Lid blinzeln.
So standen sie da, Drache und Mensch, beide unfähig sich zu regen, beide starrten sich voller Haß an, der Drache gierig auf den saftigen Leckerbissen, der Mensch gierig auf das Gold und die Edelsteine.
Niemand weiß, wie lange sie sich anschauten, Stunden, Tage oder Wochen, verharrten wie zu Eis erstarrt, bis sie schließlich erlöst wurden.
Eine schöne junge Frau kam in die Höhle, aus welchem Grund ist unbekannt, doch sie trat ein in die Finsternis und erblickte den Drachen und den Krieger. Sie schritt näher zum Drachen, furchtlos und leichtsinnig, wie es schien. Der Drache freute sich darüber, zwei Happen auf einen Schlag! Damit würde er sich eine Zeitlang ernähren können, und er wußte, früher oder später würde er sich wieder bewegen können, um sich an dem Menschenfleisch gütlich zu tun. Er brauchte nur auch noch dieses dumme Ding zu fesseln, das sich in seine Höhle gewagt hatte.
Schon hatte er seine Magie ausgesandt, doch sie traf auf Widerstand! Was er nicht wußte, die Frau war eine Zauberin. Sie setzte ihren eigenen Zauber gegen den des Drachen, und so kämpften sie gegeneinander, Magie gegen Magie. Der Drache machte sich keine Sorgen, seine Magie war stärker als die eines kleinen Menschen, er würde gewinnen. Doch die Zauberin setzte all ihre Macht ein, er mußte ihr seine ganze Aufmerksamkeit widmen.
So geschah es, daß er den Krieger außer Acht ließ und seinen Bann unwissentlich löste. Als der Krieger sich wieder rühren konnte, führte er seine begonnene Bewegung zu Ende und stieß den Speer zwischen die Halsschuppen des Drachen, dorthin, wo die Schuppen nicht so dicht und die Haut nicht so geschützt war.
Der mächtige alte Drache schloß also, besiegt von zwei Menschen, seine Augen, um sie nie wieder zu öffnen, und die Zauberin und der Krieger nahmen den Schatz und verteilten ihn an die, die Leid von dem Drachen erfahren hatten. Die beiden Drachentöter lebten glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage.



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Meriamon, Hüterin des Mondsees, 30.03.1998

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