Aus dem Leben eines Baumes


Ich weiß nicht, wie alt ich bin. Ziemlich alt würde ich sagen. Älter als die ganzen kleinen Bäumchen um mich herum. Ja, ich bin sehr alt, ich habe schon viel gesehen. Ich weiß nicht, wie lange ich noch leben werde, irgendwann wird ein kleines Männchen kommen, mit einer Axt oder mit einer ratternden Motorsäge, so ein winziges Männchen, halb so alt wie ich und - zack! - hat es mich gefällt. Dann werde ich da liegen, tot, und man wird mich in Stücke sägen, um mich ins Feuer zu werfen, oder um einen Stuhl aus mir zu machen. Einen Stuhl aus mir, dem alten Baum! Na ja, ich hoffe, bis dahin wird es noch lange dauern.
Ich weiß noch, als ich noch ein junger Baum war, um mich herum standen die alten Bäume, älter als ich jetzt bin. Ja, damals war ich noch unerfahren und naiv. Ich hatte keine Ahnung von Männern mit Äxten, hatte noch nie den Tod gesehen. Ich war so jung und kannte nur mich und mein Leben.
Ich hatte Spaß damals. Ich habe die jüngeren Bäume geärgert, war unhöflich und frech zu den alten Bäumen. Es war so schön, den Wind in meinen kleinen Ästchen zu spüren, und wenn es einen Sturm gab, dann freute ich mich über die wirbelnden Luftmassen, die meine Blätter abrissen. Heute habe ich bei jedem kleinen Sturm Angst, daß er mich entwurzelt, bei jedem Gewitter Angst, daß der Blitz einschlägt und mein Leben vorzeitig beendet. Damals war es ein aufregendes Abenteuer, im stürmenden Wind zu stehen. Oh, ich weiß noch, wie stolz ich war, als der erste Vogel sein Nest in meinen Zweigen baute. Endlich war ich in die Gemeinschaften der erwachsenen Bäume aufgenommen! Der kleine Gast, der bei mir eingezogen war, ging mir zwar bald auf die Nerven, ständig flog er hin und her, mit Stroh und Zweigen im Mund, um seine Wohnung auszubauen. Doch im Frühling, ich kann mich noch genau an diesen Frühling erinnern, als die ersten kleinen Vögel zwischen meinen Blättern ausschlüpften! Das war ein Gepiepse und Gezwitscher! Wie glücklich hab ich doch auf die Neugeborenen herabschaut! Ja, alles war so schön damals.
Mit der Zeit wurde es zur Gewohnheit, daß die Vögel ihre Nester bauten, ihre Eier legten, die Jungen schlüpften, die Vögel diese fütterten, die Junge flügge wurden und das Nest verließen. Jedes Jahr war es dasselbe. Obwohl, irgendwie war es immer wieder schön, wenn das erste Ei aufsprang. Trotzdem, jetzt, wo ich alt bin, macht es mir nicht mehr solche Freude wie früher.
Ich erinnere mich an meinen Freund, das Eichhörnchen. Jeden Tag im Sommer kam er immer wieder zu mir, hüpfte über meine Zweige, streifte meine dichten Blätter mit seinem roten Schweif. Wir haben viel Spaß zusammen gehabt. Es ist lange her, eines Sommers wartete ich auf ihn, aber er kam nicht, er ließ mich allein.
Ich spüre noch, wie das Wasser, der Lebenssaft, durch meinen Stamm rinnt, ich spüre es wie am ersten Tag meines Lebens. Ich kann fühlen, wie die Nahrung in die Blätter, bis in die obersten Spitzen meiner Zweige fließt, ich sauge den Saft aus der fruchtbaren Erde. Die Erde, sie ist meine Mutter, sie ernährt mich, ohne sie könnte ich nicht leben. Wir beide gehören zusammen.
Ich gewöhne mich langsam an den Lauf der Jahreszeiten. Bald werden meine Blätter sich verfärben, von dem lebendigem Sommergrün zu Braun, der Herbst ist nicht mehr weit. Aber es macht mir nicht mehr solchen Kummer wie damals, als meine ersten Blätter zu Boden fielen. Ich weiß jetzt, daß der Winter nicht ewig dauert, im Frühling fängt alles wieder von vorn an. Es ist immer wieder ein wunderschönes Gefühl, wenn man fühlt, wie die ersten Blätter anfangen zu sprießen. Oh, ich liebe den Frühling! Ich alter Baum bin schon im Herbst meines Lebens, bald wird mein Leben zu Boden fallen, wie die Blätter es jedes Jahr tun, nur es wird keinen Frühling geben. Vielleicht doch, vielleicht gibt es ein neues Leben jenseits des Todes, ich weiß es nicht, ich kann nur hoffen, daß der alte Baum einen neuen Frühling haben wird. Ich bin traurig, denn bald, ich weiß es, bald werden die Axtmänner kommen und in mein Fleisch hacken, so daß ich umfalle und ohne Leben auf dem kalten Boden liege.


Zurücik zum Lagerfeuer
Zum Mondsee

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Meriamon, Hüterin des Mondsees, 30.03.1998

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